Die Tür des Abteils wurde aufgerissen. Koffer und Taschen versperrten auf einmal den Weg und eine blonde Frau und ein dunkelhaariger Junge sahen sich um, auf der Suche nach dem besten Platz. Sonst war keiner im Abteil. Und es entstand dieses seltsame Gefühl, als wenn die Stille, an die ich mich geklammert habe, die ich genossen habe, sich langsam aus dem kleinen Raum schleicht. Ich erwartete, dass die Ruhe gleich ziemlich brutal zerstört wird. Aber wodurch eigentlich?
Langsam entstand eine Konversation zwischen mir und der Frau, dann zwischen mir und dem Sohn. Worüber wir zuerst genau redeten, weiss ich nicht mehr. Später erzählte sie mir, dass sie vor 17 Jahren aus Kasachstan mit ihrem russischen Mann nach Deutschland kam. Mit ihrer zweijährigen Tochter Julia. Nicht leidend, oder Mitleid erregend. Sachlich. Involviert. Tapfer. Die Wertschätzung für das System, in dem wir hier in Deutschland leben, war in jedem ihrer Sätze zu spüren. Gesundheitsversorgung, Schulsystem, frei sein. So ist das nicht, wenn man im Sozialismus aufgewachsen ist.
Ihr Deutsch ist fließend, ihre Herkunft dennoch an ihrem Akzent auszumachen. Sie arbeitet in einer Schokoladenfabrik und als Altenpflegerin. Der Junge, Andreas, spricht akzentfrei und mit bestem Ausdruck und einem riesigen Wortschatz, deutsch. Ich war beeindruckt. Ein Junge, elf Jahre; er besucht die sechste Klasse einer Realschule in Peine. Offensichtlich ist es wichtig für ihn, welche Klamotten er trägt, welche Musik er hört (Hip Hop. Ganz besonders 50 Cent, beantwortet er meine Frage), erzählt mir, dass er "cool" sein möchte in der Schule. Auch, dass er, wenn er sich mit seinen Freunden trifft, viel "cooler" reden muss. So mit "alter" und so, meint er.
Ich sage seiner Mutter, dass ich von seinem Wortschatz und seiner Fähigkeit, sich zu artikulieren, beeindruckt bin. Sie ist stolz auf ihren Sohn. Auch auf ihre Tochter, die jetzt zum neuen Wintersemester ihr Studium an der Universität Hildesheim aufgenommen hat. Lehramt. Deutsch und Politik sind ihre Fächer.
Und ich muss daran denken, wie es für mich war, im Ausland zu leben. Wie schwierig viele Dinge sind. Die Sprache. Die Bürokratie. Sich zurecht zu finden. Im täglichen Leben. In einer anderen Welt.
Das kann nicht jeder.
In diesem Abteil war keine Stille. Aber gegenseitiger Respekt, ehrliches Interesse und Herzlichkeit.
Plötzlich sah ich die Kirchtürme meines Zielortes vor dem Zugfenster, der Zug hielt und ich klaubte schnell meine sieben Sachen zusammen. Ich sagte "auf Wiedersehen". und stand auf dem Bahnsteig. Es war windig.
Auf dem Bahnsteig zog ich meine Jacke an, ordnete meine Haare und sah auf, als ich eine Kinderstimme hörte. Tschüss!
Es war Andreas. Er war aus unserem kleinen Abteil noch mal rausgelaufen, um noch sich noch einmal zu verabschieden.
Dann sah ich, wie er und seine Mutter mir aus dem langsam abfahrenden Zug zuwinkten. Die Begegnung war vorüber.
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